Prof. Holger Helbig zur Ausstellung kompositionen. dem dunkel erwidern im MARK ROTHKO ART CENTER in Daugavpils (Lettland)

Texte 16. Januar 2020

Dem Dunkel erwidern.

Es gibt kein monochromes Bild, es gibt kein figürliches Bild. »In Daugavpils« (20), in der Nähe des Monochromen, könnte ein Ausgangspunkt der Betrachtung sein. Es ist eine Übung in der Begrenzung eines Farbtons, das Einfangen der Abweichungen, das noch im Raum halten.
Die Farben, generell, sind einmalige Mischungen. Es sind Farben ohne Namen. Wobei sich leicht sagen ließe, dies ist ein Bild in Rot, dies ist ein blaues Bild: Was soll das heißen? Wie soll das heißen?
Die Bilder haben Namen oder bleiben unbenannt. Die meisten Namen greifen musikalisches Inventar auf, zeigen Kompositionsweise und Zuordnungen an, Variation und Interludium, dazu passt eine von Saties Spielanweisungen: »Öffnen Sie den Kopf«.
Die Ferne wird aufgerufen, »Schwe­dische Variationen«, ein konkreter Ort. Auch »In Daugavpils« benennt einen Ort, den, an dem die Bilder zu sehen sind (jetzt).
Der Farbton der linken unteren Ecke grundiert ein kleines Quadrat, in dem, auf dem, unstete grüne Flächen klar konturiert den Kern des Kompositionsprinzips der dann folgenden Reihe offenlegen. Welche dem Betrachter »das Leben der Flächen erkennen halfen und ihr Verhältnis zur Atmosphäre« (Rilke über Rodin, den Künstler meinend, nicht den Betrachter).
Der Farbton der linken unteren Ecke, der auch jenes kleine Quadrat (21) grundiert, findet sich als Einschluss links unten sowie am oberen rechten Rand des viermal so großen größtenteils blau grundierten Quadrats (22) gleich daneben – und dann, sehen Sie die feine Spur, fast in der Mitte jenes nun wieder kleinen Quadrats, blaugelbgrün ungrundiert (24), ehe ein zweites, ebenso klein bzw. groß, auskommt mit denselben Farben (23), die Flächen in einem anderen Verhältnis, und ohne eine Spur jenes Farbtons aus »In Daugavpils«? Es gibt nichts Unzusammenhängendes. So dass sich, im günstigen Falle, eine Atmosphäre ergibt.
Fünfzehn Bilder heißen Variation. Man glaubt zu wissen, was eine Variation ist, die veränderte Wiederholung von Etwas. Das Wort »variatio« betont ursprünglich den Unter­schied. Er wird freilich nur sichtbar, wenn es auch ein Gleiches gibt. Einzig in der Musik herrscht eine strenge Theorie der Variation vor. Es wird benannt, was gleich bleibt: ein Thema, und was sich ändert: Rhythmus, Melo­die, Harmonik, Dynamik. Das sich Verändernde stiftet den Zusammenhang, weil es sich auf nicht einfache Weise wiederholt.
Gemeinsam ist den musikalischen und malerischen Variationen, dass es klar konturierte Teile brauch­t, die sich zu einem Ganzen fügen. Die malerische Vervielfachung erzeugt eine gewisse Selbstähnlichkeit in den Bildern. Deren Bedeutung lässt sich durch ostentative Hängung verstärken, so dass die Wiederholung als Gestaltungsmittel neben Form und Farbe sichtbar wird.
Drei mal drei Quadrate ergeben ein zehntes, summarisches Quadrat; das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Der Anblick entzieht sich der Kalkulation, die Beziehung der Einzelteile ist offensichtlich. Es bestehen mehrere Beziehungen, aber dieses Bild (3) hat keinen Titel.
Auf den ersten Blick erzeugt die Abwesenheit des Gegenständlichen eine große, offensive Selbst­bezüglichkeit. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, wo nichts abgemalt werde, werde auch nichts gezeigt. Das Gemeinsame resultiert aus den Folgen der Abstraktion für die Betrachter. Abstraktion als Verfahren bildet die Voraussetzung der Betrachtung. Sie deutet auf das Gemeinsame.
Die Abstraktion ist ein Verwandeln, kein Vergessen. Eine Beobachtung, die Rilkes Überlegung aufgreift, dass einem Bild eine stoffliche Anregung vorausgeht. Er sieht im Verfahren der Verwandlung des Stoffes ins Bild eine Offenbarung von Persönlichkeit. Dann wäre der Blick auf die Bilder ein Blick in die Werkstatt der Malerin.
Er zeigt, was bei der fortgesetzten Arbeit am Verfahren von Erdmute Blach herausgekommen ist: ein bestimmter Blick auf die Welt. Welt ist unvermeidlich da. Auch außerhalb der Malerei besteht die Welt aus Farbe, Flä­chen, Formen. Abstraktion ist nur eine Art, damit umzugehen. Wie ist die Welt beschaffen?
Die Welt ist veränderlich. Sehen Sie links neben diesem großen nahezu dreifarbigen Bild, das aus drei Leinwänden (34) besteht, die zwei kleineren nahezu einfarbigen Quadrate (32, 33). Bereiten die beiden kleinen (oder eins von ihnen) auf den Anblick jenes größeren vor? Oder sorgen schon allein die Ausmaße jenes großen Gemäldes dafür, dass die beiden kleinen sich erst ansehen lassen, nachdem man die drei Teile als Ganzes oder ihr Ganzes betrachtet hat?
Das Ganze des großen Bildes wird zusammengehalten durch einen halben heimlichen Rahmen, links und rechts; heimlich, weil er am Ende, rechts, nur zu sehen ist, wenn man sich erinnert, was am Anfang stand – welche Farbe: dieselbe.
Die Teile werden auch zusammengehalten durch den starken Kontrast, den die Über­gänge der Leinwände bilden. Die erste und zweite Leinwand stoßen zusammen, selbst wenn man ahnt, dass jenes langsam sich aufhellende Graugrün sich fortsetzt unter den beiden Rottönen, auf die es trifft. Die beiden Rottöne, die sich auf der zweiten Leinwand begegnen, sind nicht vom selben Rot, sie grenzen einander ab. Hingegen auf der anderen Seite, an der anderen Grenze, setzt sich der Rotton über die Leinwände hinweg fort. Ehe er übergeht in ein Grüngrau, das deutlich erinnert an jenes Grüngrau zuvor, zwei Leinwände entfernt. Das Erinnern ist eine stark aufgetragene dunk­le Spur, eher ruhiger, die wieder hin zu dunklerem Ton sich fortsetzt, der anfangs kaum Raum hatte, aber da war. Die beiden deutlichen Grenzen, Raum ohne Leinwand, aber farbig (zumindest im Anblick), verbinden durch ihre gegensätzlichen Folgen das Ganze. Die beiden deutlichen Grenzen fügen Unterschiedliches zusammen.
Ich zeige nicht auf das expressive helle Ocker, das den Blick auf den Pinselstrich lenkt, die Bewegung des Malens betont, Bewegung betont, Wiederholung darstellt, wiederholten Farbauftrag, wiederholtes Gefühl (expressiv). Das helle Ocker, das einen Auftakt bildet, zeigt sich von allein. Ich zeige auf jene Spuren von dunklem Fastgrau, Nichtschwarz, die das Auslaufen des Ockers, das durchscheinend wird, grundieren. In ihnen ist schon angelegt, worauf alles hinauslaufen wird. Jenes sehr dunkelgraue Grün war vor dem Ocke­r, ist unter dem Ocker. Das relativiert den Rahmen, der Rahmen könnte auch ein Grund sein.
Zwischen Auftakt und Ausklang geht Orange in Rot über. Es gibt nicht eine Stelle, an der sie sich vermischen zu einer dritten Farbe. An den (winzigen) Übergängen, an der Grenze der Farben, erinnern einige Striche an Ocker, ein Anklang.
Das Ganze gewinnt im Zusammenspiel sein Gemeinsames. Zu den Effekten der Grundierung und der Grenzen gehört, dass, sobald man das Bild (vorläufig) ausgelesen hat, offensichtlich ist, dass die Gegensätze sich nicht auflösen, sondern ineinander angelegt sind. Eine Farbe geht aus den anderen hervor, mit unerklärlicher Selbstverständlichkeit, als sei die erste Farbe, der Grund, daraufhin angelegt.
Aus dem Verlauf der Farbe (der Betrachtung), ergibt sich ein Ort: das Bild, das einen Verlauf sichtbar macht. Das Vorführen der wiederholten Veränderung als Stillstellen des Wechsels durch Begrenzung entspricht dem Reiz, der im Prinzip der Variation liegt. Das sich Verändernde stiftet einen Zusammenhang, das Gemeinsame wiederholt sich auf nicht einfache Weise.
Alle Farben haben keinen Namen. Sie sind, generell, einmalige Mischungen. Wie sich auch die Gemeinsamkeit der namenlosen Formen nicht benennen lässt, man sie aber sehen (und zeigen) kann.
Sehen Sie nun, wie die beiden kleinen Bilder durch das fehlende Zwischenstück miteinander verbunden sind? Das große Bild trägt den Namen »Mudança (Wandlung)«, damit ist benannt, was dargestellt wird. Die Wandlung ist, was zwischen den beiden kleinen Quadraten liegt, zwischen dem rostigen Dunkelrot und dem wasserhellen Grün. Es gibt nichts Unzusammenhängendes. Die Komposition der drei großen Leinwände färbt ab auf die Hängung der zwei kleinen Leinwände. Die Korrespondenz der Kontraste verführt zur Übernahme der Betrachtungsweise. Da ist eine Gemeinsamkeit.
Sie resultiert aus dem Umgang mit Welt, aus der Art der Abstraktion. Es gibt das eine Bild nicht, und auch nicht die eine Betrachtung. Es lässt sich etwas über die Qualität der Farben sagen.
»Das Gemeinsame sehen. Nimm an, ich zeige jemand verschiedene bunte Bilder, und sage: ›Die Farbe, die du in allen siehst, heißt ›Ocker‹.‹ – Das ist eine Erklärung, die verstanden wird, indem der Andere aufsucht und sieht, was jenen Bildern gemeinsam ist. Er kann dann auf das Gemeinsame blicken, darauf zeigen.« Angesichts des philosophischen Problems, offensichtliche Gemeinsamkeiten auszusprechen, setzt Wittgenstein auf ein Gespräch, das vom konkreten zum Abstrakten führt.
Die Abstraktion der Malerin setzt auf das Licht, das von den verschiedenen Oberflächen zurückgeworfen wird. Es erzeugt kein Bemühen, nach der Intuition zu fragen, die es bei der Malerin gegeben haben könnte, nach ihrer Stimmung, aus der heraus sie angesetzt, der Einsicht, mit der sie gearbeitet hat. Vielmehr ist der Nachvollzug der Bewegung, der im Malen aufgegangenen Dynamik, verselbstständigt zu einer Anregung für die Betrachter. Das meint zuallererst, die Farbe als Farbe anzuerkennen. Die Form der Far­be, ihre Beschaffenheit auf der Leinwand, ist der Gegenstand der Abbildung geworden.
Aus Ansammlungen von Konstellationen entsteht eine Art Spur: ein erkennbarer, deshalb nicht unbedingt benennbarer, Zusammenhang.
Die Vermeidung des Gegenständlichen ist keine Weigerung, verständlich zu sein. Die Wiederholung erzeugt Konzentration, ermöglicht eine Sichtweise, das Offensichtliche beginnt selbstverständlich zu werden. Was da zu sehen ist, leuchtet ein. Es sind die Farben.
Es gehört zu ihren Qualitäten, ein Gespräch zu ermöglichen. Die Betrachtung antwortet den Bildern. Dabei ist unerheblich, an welcher Stelle die Betrachtung einsetzt, der Rundgang beginnt. Es gibt kein monochromes Bild, kein figürliches. Alle Farben sind ohne Namen. Sobald die Betrachter sie benennen, antworten sie den Bildern. Jeder Name erwidert dem Licht, so wie jedes Bild der Dunkelheit antwortet. Jedes einzelne ist ein Einwand gegen die Dunkelheit. Wie der Dichter sagt: Of the several answers to darkness, better than sleep …

Holger Helbig, 2019